Wächst aus Elend Hoffnung?

Über Cité Soleil, Port au Prince´s riesigen Slum, ging unser Flieger nieder auf das Rollfeld. Elend, teilweise unbeschreiblicher Schmutz, Armut und Trostlosigkeit begleiten uns vom ersten Tag. Mit der Fahrt vom Flugplatz beginnt es, wird weniger in Paco, dem westlichen Villenviertel und bleibt schliesslich draussen vor dem Tor als wir in das von Grün und Bougainvillea überrankte Gemäuer um unser Hotel auf dem Hügel einfahren. In den nächsten Tagen wollen manche unserer Fahrer in Port au Prince möglichst alle besonders armen und uns vielleicht verstörenden oder angeblich gefährlichen Viertel meiden.

Mit dem Mietwagen – das erste Mal, dass wir einen Geländewagen zu schätzen wissen – von Cap Haitien in die Berge und an die Küste, später nach Süden hinunter zu Hauptstadt können wir uns das nicht aussuchen. Beängstigend und unvorstellbar schmutzig die Kilometer langen Märkte entlang der Ausfallstrassen, an denen wir mit Bussen, UN-Jeeps, übervollen Tap-Taps, kleinen Pritschenwagen mit 2 Bänken rechts und links, besetzt mit 12,14 Personen, Schubkarren, Maultieren, riesigen MACK-Überlandlastwagen durch beissenden schwarzen Dieselruss fahren, vorbei an Körben und wackligen Holzgestellen, die die Strasse einengen, um im einen Korb drei Flaschen Hautöl, ein paar Duschhauben und einen Kamm, auf dem Gestell daneben 6 gebrauchte Cell-Telefone, einige Kopfhörer und Telefonhüllen, dann wieder in Körben frische Mandarinen, Grapefruit und Süsskartoffeln anzubieten. Der Mann mit den gebrauchten Autoreifen braucht mehr Platz und die Frau mit den 4 Fischen im Korb muss die Fliegen weg wedeln. Daneben wird frisches Wasser in Plastiktüten verkauft, die aufgebissen, ausgetrunken und weggeworfen werden. Tabletts mit Fettgebäck werden uns ans Fenster gereicht und Geldbündel hochgehalten, die gegen Dollar getauscht werden können. Wir kurven um Motorradfahrer und stolz aufrecht gehende Männer und Frauen, die Lasten auf den Köpfen tragen. Dazwischen immer Kinder und Jugendliche in ihren Schuluniformen, fleckenlos sauber und fein gebügelt, auf dem Weg vom oder zum Unterricht.

Lauschig einige Dörfer nur wenige Kilometer von der Hauptstrasse entfernt, ärmlich natürlich auch hier alles, voller Schlaglöcher, auch hier die Strasse eingeengt durch die Körbe des feil gebotenen Obstes, der Zuckerrohrstangen, die geschält werden, der Bananen, immer wieder Bananen, und der Gemüse. Das Dach der Bäume wölbt sich oft darüber, jeder findet einen Platz im Schatten, entgeht der brütenden Hitze, so schmutzig wie in den Vorstädten ist es nie, sogar reinlich manchmal, kaum eine Bananenschale auf der Strasse, kaum eine Plastiktüte. Auch hier die Jungen auf dem Weg vom oder zum ärmlichen Zuhause, in Blau-Weiss, Grün-Beige, Rot-Rosa, die Schulkleidung als Kostbarkeit gehalten, gewaschen und gebügelt, die Mädchen mit Schleifen im Haar.

Wenn wir durch das Grün der Siedlungen fahren, machen sie fast die weiten abgeholzten, kahlen Flächen vergessen, die kaum noch Regen speichern können, auf denen sich um jeden Baum, der überleben konnte, wieder ein wenig Grün ansiedelt, wo sich aus jedem Tal zaghaft neuer Bewuchs in die Höhe wagt. Die Früchte, der Reis, der in den grossen Niederungen noch angebaut wird, (viele Felder liegen öd da wegen des billigen, aus den USA importierten Reises) die Gemüse, die in den Gärten um die Häuser wachsen, die Mangos, die unreif über der Strasse baumeln, die Maracuja, die herunterfallen und in den Strassengraben rollen, die Grapefruit, eben gepflückt, die wir am Rande zu Vierer- und Achterpyramiden geschichtet, kaufen können, alles zeigt, dass sich Haiti allein ernähren kann. Die Lebensmittellieferungen nach dem Erdbeben hatten ihren Sinn, aber das Überschwemmen des Landes mit Überschussprodukten aus den reichen Ländern ist frevelhaft, es entmündigt die Menschen und zerstört die alten agrarischen Traditionen.

Die meist zierlichen, schwarzen Haitianer begegnen uns immer und überall freundlich und offen, erwidern sofort jedes bon jou und bon swa. Für strahlende Freude haben die Älteren selten Grund. Wir spüren eine melancholische Resignation, besonders wenn man über Politik spricht. Die zweihundertjährige Geschichte Haitis ist trotz des fulminanten Beginns, der leidvoll erkämpften Unabhängigkeit, eben kein Erfolg. Machtlosigkeit gegenüber den USA werden spürbar und sogar häufig Kritik am UN Einsatz, der von vielen als überflüssig und kostspielig angesehen wird. Nach Jahren der Missregierung, nach zwei Diktaturen, bei Fortbestand der oligarchischen Strukturen und – leider – deren Unterstützung durch den grossen Bruder, die USA, ist es auch für die gutwilligste Regierung schwierig, das Land voran zu bringen. Es gibt noch kein öffentliches, nicht einmal ein gut geregeltes, sondern nur ein fast unkontrolliertes privates Schulsystem, noch keine nennenswerte Industrialisierung, keine sichere Stromversorgung, ein marodes Abwassersystem, keine Infrastruktur zum Tourismus, keinen öffentlichen Nahverkehr und abenteuerliche Fernverbindungen. Von Familienplanung oder Geburtenkontrolle wird nicht geredet, Kinder wurden und werden auch heute noch weg gegeben, weil man sie weder ernähren noch zur Schule gehen lassen kann.

Die Menschen stehen auf der Strasse, ohne lesen und schreiben zu können, ohne Arbeit oder eine Aussicht darauf. Die Städte, vor allem Port au Prince, waren der Magnet und sind es immer noch. Ein Job für ein paar Gourdes lässt sich ab und an unter meist unwürdigen Bedingungen ergattern, dafür muss man auf der Strasse oder in Favellas leben. Diesen Kreislauf kann Haiti bis heute nicht durchbrechen, solange noch die alten Strukturen und die Unbildung vorherrschen.Und doch scheint Hoffnung zu blühen, scheint sie gerechtfertigt zu sein im ärmsten Land der westlichen Welt. Allen Jungen, so scheint uns, steht die Schule als Versprechen, als ersehntes Ziel, als beste aller Möglichkeiten vor Augen. Diejenigen, die sie besuchen dürfen, sind stolz darauf, die anderen, die das nicht dürfen, schauen ihnen mit Sehnsucht nach.

Von zu Hause Gewohntes haben wir vermisst: Wir hörten keine Kleinen weinen oder quengeln, wir sahen kein gelangweiltes Desinteresse bei den Älteren, nicht diesen furchtbar leeren Blick, der uns zu Hause in der U-Bahn und auf der Strasse oft begegnet. Stolz haben wir die jungen Männer im Lakay des Padre Stra, stolz und froh, nicht mehr in der Cité Soleil zu leben, haben wir die Jungen und Mädchen in den Häusern der Haiti Kinder Hilfe der Höfers erlebt. Die Kleinen im Waisenhaus und in der Schule der HaitiCare des Ehepaares Kaasch und ihrer Natacha kennen das Gefühl des Stolzes noch nicht alle, aber sie sind fröhlich wie Kinder nur sein können, genau wie die Kleinen der Haiti-Not-Hilfe des Ehepaares Diehl, deren Vorschul- und Schulklassen uns mit ihrem Lied willkommen hiessen. Und die zweiundachtzig Kleinen und Kleinsten der Mme. Leconte sind einfach eine fröhliche, von liebevoller Pflege umgebene Schar Kinder.

Wir sind nach Haiti gefahren, weil uns klar geworden ist, dass wir zu alt sind, um mit unserer Stiftung noch etwas von Grund auf neu zu entwickeln. Dies mag unseren Jungen im Stiftungsbeirat, den Nichten und Neffen, den jungen Freunden ein Anliegen werden. Lange schon wollten wir nach Afrika, dazu ist es nie gekommen. Über viele Jahre haben wir das Mittelmeer, mare nostrum, bereist, leben nun in dessen Mitte, auf Elba. Später hat uns der buddhistische Raum Südostasiens angerührt, dann kam die Möglichkeit und die Begeisterung für das Schiff und die vielen schönen Wintermonate in den Antillen.

Nach den fünfzehn Jahren, in denen wir mit dem Schiff in der Karibik unterwegs waren, ist dieser Raum ein wenig zu „unserem Afrika“ geworden. Von dem, was wir haben, können wir hier etwas zurück geben, hier wird es gebraucht. Haiti war das erste Land Westindiens, in dem sich die verschleppten Sklaven gewehrt, in dem sie ihre Freiheit und Selbstständigkeit erkämpft haben. Der Stolz darauf scheint sehr verborgen, aber wir spüren ihn heute noch: In Offenheit und Freundlichkeit, im uns aufrecht begegnenden Blick.

Die vier Organisationen, deren Einrichtungen wir hier besucht haben, hatten wir im Laufe der vergangenen Monate durch Briefe, Mails und teilweise persönlich kennen gelernt: In Allen, das haben unsere Besuche bestätigt, wirklich in Allen weht so viel Guter Geist, ist so viel persönlicher Einsatz vorhanden, bei Allen wandert fast jeder Cent in die Arbeit hier.

Wir werden einen grossen Teil des unserer Stiftung in diesen Jahren zur Verfügung stehende Budget hier verwenden; jede der Organisationen ist in unseren Augen jede Unterstützung wert.

Sollte jemand von Euch uns dabei helfen können und wollen, einmalig oder laufend, vielleicht mit Patenschaften, bitten wir Euch sehr, nicht zu zögern.

Sowohl unsere Stiftung des öffentlichen Rechtes, als auch die anderen, unter den Projekten aufgeführten Organisationen stellen selbstverständlich für jede Spende eine nach § 10b EKStG abzugsfähige Spendenquittung aus.

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