Madame Leconte

2015

Französisch statt Creole

Am nächsten Morgen die Holperfahrt nach Cap Haitien und drei, vier Kilometer hinaus auf der Landstrasse zum Komplex „Institut Notre Dame de la Médaille Miraculeuse“ dem ehemaligen Familiensitz von Mme. Leconte, der zarten schwarzen Haitianerin.

Vor zwei Jahren war die Schule schon fertig und in Betrieb, aber die alten Hütten und die neuen, noch unfertigen Häuser des Waisenhauses um den Baum bestandenen Hof, das ganze Areal war bei unserem ersten Besuch Baustelle mit achtzig kleinen Kindern, die auch damals schon betreut werden mussten.

Das Engagement von Madame, der schon hochbetagten Soeur Godelieve und ihren Helferinnen hatte uns beeindruckt und veranlasst, den Betrieb des Hauses seither regelmässig zu unterstützen. Nun sind alle Zimmer in den Neubauten, jedes mit einer kleinen Terrasse, penibel aufgeräumt, die kleinen Schulranzen liegen in den Regalen, die Krabbelkinder liegen und spielen in ihren Ställchen auf Matten, (Immer noch fehlt das Geld für Papierwindeln, hinter dem Waschhaus hängen meterlang die Baumwollmusseline zum Trocknen) Auf einer der Terrassen legt eine junge deutsche Praktikantin mit vier nicht mehr ganz Kleinen ein Puzzle zusammen.

Janine ist sofort mit ihr im Gespräch: Die junge Frau ist für drei Monate hier, ihre Freundin für ein halbes Jahr; vom Geist des Hauses seien beide sehr angetan und die Arbeit hier mache ihnen viel Freude.

Es ist schön, dass wir uns mit Mme. Leconte diesmal auf Englisch unterhalten können. Beim ersten Besuch war das nicht möglich: Sicher eine Folge der grossen Reserven, die viele Haitianer der älteren Generation wegen des hegemonialen Auftretens der USA in verschiedenen Epochen des vergangenen Jahrhunderts noch bestimmen. Mit der englischen Sprache – und ihrer Verweigerung – verbindet sich immer der Gedanke an den grossen Nachbarn und sein Auftreten als Kolonialherr der zweiten Generation.

Im Gespräch darüber sind wir einig, dass das Englische als die Lingua franca für die Erziehung der Jungen im Land notwendig sei, dass in keiner ernsthaft betriebenen Ausbildung darauf verzichtet werden könne. Auch in ihrer Schule lege Madame Wert darauf und habe eine, wie sie sagt, exzellente Lehrerin dafür angestellt. Im Übrigen fällt uns hier auf, wie vorzüglich die Kleinen französisch sprechen – statt creole ist dies die Sprache im Hause und in der Schule.

Dass wir auch sofort beim zweiten Thema, der Sexualaufklärung ihrer Schülerinnen, mit Mme. Leconte übereinstimmen, wundert und erfreut uns: Absolut notwendig sei es, die Mädchen auf ihr Leben in allen seinen Möglichkeiten, den Gefahren und den Freuden vorzubereiten. Der unkontrollierte Kinderreichtum, der ja kein Reichtum mehr sei, sondern oft untragbare Last für die Frauen, sei eine der Hauptursachen vielen Elends im Lande.

Nur das Lakay der Don-Bosco-Brüder unter P. Stra und dies Haus, in dem wir heute sind, haben unter den Einrichtungen, die wir unterstützen, eine Verbindung zur (katholischen) Kirche. Gesucht haben wir, die überzeugten Laizisten, nicht danach; aber wie bei unserem ersten Besuch sind wir auch heute wieder überrascht, wie in der Arbeit beider Häuser die jungen Menschen mit ihren Bedürfnissen und Schwächen, ihren Notwendigkeiten und ihrem Wunsch nach Liebe und Umsorgtheit im Mittelpunkt aller Arbeit stehen. Wenn dabei auch Glaubensinhalte vermittelt werden, sehen wir diese vor allem als die ethischen Grundlagen, mit denen auch wir alle gross geworden sind.

Heinz,-Mme

Bild: Heinz, Mme.Leconte, Soeur Godelieve, Dieter

Junge-bei-Mme

Bild: Junge bei Mme.Leconte

2013

Madame Leconte

Vor allem liebevoll

Am Nachmittag müssen wir die Hauptstrasse von Cap Haitien noch einige Kilometer weiter hinaus fahren, Hausnummern oder Strassenschilder gibt es nicht, hohe Mauern und Blechtore überall. Wir telefonieren und fragen uns durch zum Waisenhaus der Mme. Leconte. Ihre Mitarbeiterin Soeur Godelieve, Belgierin, um die achtzig, zerbrechlich erscheinend, im weiss-hellblau gestreiften Kleid kommt uns am Rande der Nebenstrasse winkend entgegen. Wir rumpeln mit ihr durch die Schlaglöcher zurück.

Hinter dem Tor empfängt uns ein etwas chaotisches Paradies. Vous pouvéz parler allemand, sagt Schwester Godelieve zu einer jungen Frau mit schwarzem Nasenring, die neben der Wiese, auf der wir das Auto geparkt haben, mit einem gleichaltrigen schwarzen Haitianer spricht. Wir wechseln zwei, drei, Sätze: Sie sei als Praktikantin für einige Monate hier, es sei sehr schön, sehr interessant. Wenn wir etwas für das Haus tun könnten, wäre das wunderbar, es fehle an allem, aber die Leiterin und alle Mitarbeiter seien so engagiert, wie sie das in Deutschland, und da sei sie auch schon in einigen Häusern gewesen, noch nie erlebt hätte.

Oberhalb der Wiese sehen wir einen neuen, eingeschossigen langen Bau, rechts und links, mit dem oben einen Hof bildend, zwei ähnliche, noch nicht Fertige. Die sei das neue Waisenhaus, sagt Godelieve, die alten Gebäude an der gleichen Stelle seien nicht fundiert gewesen, alle Wände waren zerrissen und das Wasser sei überall hineingekommen. Im Hof liegen Hohlblocksteine und Bretter, ein Mörtelmischer, Sandhaufen, Zementsäcke und Baustahl. Dazwischen Kinder, die miteinander spielen, ein Plastikschiff und einen Bagger durch ein den Hang herunter laufendes Rinnsal des Bauwassers ziehen. Die Kleinen hängen an der Schwester und gleich darauf auch an uns, recken die Ärmchen hoch, streichen uns ungläubig, wie die Kinder in der Schule, über die Haare auf den Unterarmen und halten uns das Auto mit drei Rädern und das Motorrad mit nur einem entgegen.

Jetzt müssten wir aber zu Madame gehen, drängt die Schwester, geht voraus, weiter hinab auf dem Gelände, an Wirtschaftsgebäuden, dem Waschhaus und Personalwohnungen vorbei. In einem geräumigen Bungalow, unter dem sich eine weitere Wiese hinzieht, die einen auch gespendeten, aber nicht mehr fahrtüchtigen amerikanischen Schulbus in ihr Grün eingeschlossen hat, scheint Madame zu wohnen.

Godelieve klopft an einen angelehnten Holzladen. Ein Hausmädchen erscheint: Madame sei eben gerufen worden, wohin wisse sie nicht. Die Schwester erreicht sie mit ihrem Mobilphone, das auch sie die ganze Zeit in der Hand trägt: Die visiteurs seien da. Madame käme sofort, wendet sie sich wieder an uns.

Überall stehen Kartons und Taschen mit gespendeter Kinderkleidung, Windeln und Wäsche. Ein Teil davon ist auf den Möbeln ausgebreitet. Wir geniessen einen Moment den Ausblick, dann kommt Madame: Mittelgross, schlank, drahtig, schwarz, in weisser Leinenhose und weisser Musselinbluse, mit einer blauen Kappe, strahlend weiss die Zähne, leuchtend die Augen. Ihr Lachen umfängt uns drei, sie heisst uns willkommen.

Zweiundachtzig Waisenkinder habe sie, dazu oben neben den Häusern der Kleinen die acht klassige Mädchenchule, für die sei eine gute Direktorin engagiert. Die Waisen brächten ihr die Schwestern, manchmal auch die Verwandten, die nicht für die Kinder sorgen könnten. Die Bauarbeiten jetzt machten den Betrieb noch schwieriger, als er sowieso immer sei. Aber sie könne doch keines der Kleinen abweisen, wenn es ihr gebracht würde.

Auf unsere Frage nach ihrem Budget schaut sie einen Moment zum Fenster hinaus: Eigentlich habe sie keines, es ginge halt immer gerade so, Hilfe käme meist, wenn es wieder ausweglos erscheine. Auf unsere weiteren Fragen: Ja, das Land, es müssen etwa 12 – 15000 qm sein, hier so nahe an der Stadt, habe sie von der Familie. Der Schulbus dort unten sei gespendet, aber es sei leider unmöglich, ihn wieder in Gang zu bringen, die Kosten dafür seien zu hoch. Ja, Hilfe hätte sie von einigen Organisationen, unter anderem von den Höfers und ihrer Haiti Kinder Hilfe. Von denen bekäme sie nicht nur ab und an finanzielle Unterstützung, sondern auch, und das sei sehr wichtig, fachkundige Helfer vermittelt, die unentgeltlich im Hause arbeiten.

Wir beginnen unseren Rundgang nun mit ihr wieder den Hang hinauf. Bei jedem der Wirtschaftsgebäude, bei jeder frei liegenden Kanal- und Wasserleitung erklärt sie, was alles noch zu machen sei. Auf der Höhe des Einganges treffen wir wieder auf Kinder, unter einem Baum sitzt eine andere Praktikantin, die einige Kleine um sich hat. In einem Versammlungsraum findet eine Fortbildung statt, geleitet von einer französisch sprechenden Kindergärtnerin, die, als sie uns mit Madame sieht, ihren Vortrag für einen Moment unterbricht, heraus kommt und uns auf schwyzerdütsch anspricht. Das sei aber schön, dass wir hier seien und das Waisenhaus vielleicht unterstützen wollten. Sie sei gern hier, nun schon das dritte Mal. Eine liebevollere Umgebung für die Kleinen könne man sich gar nicht vorstellen. Die jungen Frauen hier seien alle sehr gut ausgesucht, an Zuneigung mangle es nicht, aber besonders zu Fragen der richtigen Ernährung sei vieles noch zu vermitteln. Das versuche Soeur Godelieve ja schon seit Jahren erfolgreich, aber in den Problemfällen, und eigentlich seien alle Kinder, besonders zu Beginn, Problemfälle, da fehlen den jungen Helferinnen Fachkenntnisse.

Um uns beide sind Trauben kleiner Kinder, die alle auf den Arm genommen werden wollen, einer, eine nach dem oder der anderen. Oben strahlen sie alle. Alle drängeln, keiner drängelt sich vor, keiner schreit, keiner weint, um seinen Willen durchzusetzen. Madame ist in einem Raum verschwunden. Ich gehe ihr nach. Dies sei noch eines der alten Zimmer für die Säuglinge, der zukünftige Raum oben im Neubau solle in ein oder zwei Wochen fertig werden. Sie wickelt einen kleinen Jungen, der Durchfall hatte. Er sei neu bei ihnen. Nein, kein Waise, aber die Eltern seien debil und könnten ihn nicht bei sich behalten. Der Kleine ist abgeputzt, wird mit Nivea-Babyöl unten herum eingerieben und bekommt die neue Windel angelegt, eine aus weisser Baumwolle, frisch gewaschen. Pampers wären so viel einfacher, aber die seien unerschwinglich. Als sie den Kleinen wieder in sein Gitterbettchen legt und sich umdreht, seufzt sie kurz: Ein kleines Mädchen hat auch Durchfall und hat beim noch wackeligen Gang quer durch den Raum eine dünnflüssige Spur hinterlassen. Auch das Mädchen kommt auf den Wickeltisch, aber erst holt Madame einen Feudel und wischt in zwei Gängen den Boden auf.

Für alle 82 Kinder habe sie elf, manchmal zwölf Betreuer. Und die junge Frau, die heute für den Babyraum zuständig sei, sei eben gerade in dem Vortrag. Das sei auch so notwendig, dass sie alle mehr lernten zu Hygiene, Ernährung und grundlegenden medizinischen Fragen. Aber zwölf Betreuer für all die Kinder, das sei kaum zu schaffen. Manchmal wisse sie gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stehe, aber dann ginge es doch immer wieder. Nun ist auch das Mädchen neu gewickelt und in seinem Laufställchen. Madame´s weisse Musselinbluse ist am Rücken nass und haftet auf der dunklen Haut.

Sie macht ihren Rundgang mit uns weiter: Der Stolz auf den (fast) fertigen Neubau ist ihr anzusehen. Die ersten Räume seien gerade bezogen, dort oben ganz rechts, das sei das Zimmer von Godelieve, daneben die Diätküche für die kranken Kinder. Die wolle die Schwester immer ganz unter ihrer Kontrolle haben und sorge dafür, dass die wertvolle Babynahrung nicht verschwendet, sondern richtig eingesetzt würde. Ohne die Hilfe von Godelieve hätte sie selbst in der Vergangenheit oft nicht aus oder ein gewusst.

Über ein Bauwasser Rinnsal, an dem vier Kinder Holzstöckchen bergab treideln lassen, zwischendurch aber auch auf den Arm genommen werden wollen, kommen wir an einem der noch im Bau befindlichen Gebäuderiegel vorbei auf das seitlich sich anschliessende Grundstück der Schule: Hier, strahlt Madame Leconte vor Begeisterung, sei nun alles fertig: Ein zweigeschossiges Gebäude, hellblau, mit acht Klassenzimmern, je einem Raum für die Direktorin, die Lehrerinnen, einem Vorratsraum und Toiletten. Alles ist eingerichtet und der Unterricht sei gratis für fast 200 Schülerinnen aus den ärmeren Wohnvierteln stadteinwärts.

Unsere Begeisterung und unsere Anerkennung für ihr Werk, für das Leben hier und für die Freude, die wir im ganzen Bereich erlebt haben, das alles haben wir wohl zum Ausdruck gebracht. Sie freut sich darüber, wie sehr wir angerührt sind. Zum Schluss übergeben wir ihr für heute unseren kleinen Beitrag für die laufenden Kosten in einem Umschlag, sagen zu, in der nächsten Zeit von uns hören zu lassen und uns um Hilfe für ihr Haus zu bemühen. Der Abschied von ihr und der Schwester ist sehr bewegt und wir kehren mit vollem Herzen wie selten in unser Hotel zurück.

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